das magazin / 4. Mai

    Die „Aschenputtel der Medizin“

    Interview mit Christina Lindholm.

    Ort
    Stockholm
    Aus- und Weiterbildung
    1. Examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Dr. in Medizin (Dermatologie und Chirurgie), Senior-Professorin an der Sophiahemmet-Universität in Stockholm, Wundberaterin am Karolinska-Universitätsklinikum in Solna und an der Geriatrischen Klinik Dalen
    2. Mitglied des Vorstandes des Europäischen Beratungsgremiums für Dekubitus (EPUAP)
    3. Chefredakteurin des schwedischen Wundjournals „Sår“
    4. Ratsmitglied (und erste Vorsitzende) des schwedischen Verbands für Gesundheits- und Krankenpfleger in der Wundversorgung (SSiS)
    5. Mitglied des EWMA-Gremiums von 1994–2008
     
    Praxiserfahrung
    50 Jahre

    Es gibt genau ein Buch mit mehr als 300 Fotos und Illustrationen sowie mehr als 700 Literaturangaben, das in ganz Schweden einheitlich als Standardwerk in der Pflege- und Wundmanagementausbildung verwendet wird. Die Autorin: Christina Lindholm. Die Medizinerin wurde während des zweiten Weltkrieges geboren und hat den ersten Lehrstuhl für klinische Krankenpflege in Schweden inne. Neben Ihrem Buch “Sår” hat die examinierte Krankenschwester mit einem Dr. in Medizin (Dermatologie und Chirurgie) mehr als 70 wissenschaftliche Arbeiten sowie 10 Wissenschaftsberichte zum Thema Wundmanagement veröffentlicht. Wir haben die passionierte Gesundheitsexpertin dazu befragt, was sie antreibt und auf welche Erfolge sie besonders stolz ist.

    Sie haben in den Balkanländern und im Baltikum beim Aufbau von Einrichtungen mit multidisziplinärem Wundmanagement eine entscheidende Rolle gespielt. Weshalb ist bei der Behandlung von Wunden ein interdisziplinärer Ansatz notwendig?

    Während meiner Tätigkeit als Forschungsdirektorin im Fachbereich Pflegewissenschaften an der Universitätsklinik Uppsala zeigte sich, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden ist. Da es dort hochspezialisierte Mitarbeiter, u. a. Gefäßchirurgen, Dermatologen, klinische Physiologen, Ergotherapeuten, Lymphödemtherapeuten und besonders gut ausgebildete Gesundheits- und Pflegefachkräfte (dank einer zweijährigen Wundmanagement-Weiterbildung über eine Franchise-Vereinbarung mit der Universität Cardiff) gab, hatte ich die entsprechende Basis, um das Projekt zur Gründung einer interdisziplinären Wundambulanz im Krankenhaus auf den Weg zu bringen. Und ich war so stolz darauf, zu sehen, wie hervorragend sich die Einrichtung entwickelte! Grundlage für die Planung und den Aufbau waren zuverlässige und umfangreiche landesweite Wunddaten. Leider wurde dieses Zentrum infolge des Trends in Schweden, die Betreuung stärker im Bereich der hausärztlichen Versorgung zu verorten, vor kurzem geschlossen.

    Was waren für Sie bahnbrechende Momente in Ihrem Berufsleben?

    Relativ früh in meiner Laufbahn ist mir eine enorm große Patientengruppe mit schlecht heilenden Wunden aufgefallen, die wir später als „Aschenputtel der Medizin“ bezeichneten. Zu chronischen Wunden gab es damals noch nicht viele Publikationen. Während meiner Zeit als Krankenschwester in einer chirurgischen Station durfte ich ein Experiment miterleben, das mich für das faszinierende Thema Wundheilung begeistert hat: Einem Patienten mit einem riesigen Ulcus cruris wurde zum ersten Mal in Schweden ein Färbemittel intravenös injiziert, das sogenannte „Fast Green“. Ziel war es, das gesamte abgestorbene Gewebe, das sich nicht grün färbte, von Chirurgen durch radikales Debridement entfernen zu lassen. Der Heilungsverlauf des Patienten grenzte tatsächlich an ein Wunder!

    Damals habe ich zum ersten Mal wirklich verstanden, wie wichtig Debridement ist. Diese Methode wurde allerdings nie wieder angewendet, da sich der grüne Farbstoff sehr lange einlagerte. Die wichtigste Erkenntnis während meines Promotionsstudiums und meiner späteren Forschungstätigkeit war, wie dramatisch sich die Lebensqualität von Patienten mit offenem Bein verschlechtert.

    Durch die Arbeiten zur Schmerzsymptomatik in dieser Patientengruppe wandelte sich die traditionelle Überzeugung, dass das Ulcus cruris venosum nicht schmerzhaft sei. Diese Untersuchungen sind wohl die bedeutendsten Errungenschaften meiner gesamten wissenschaftlichen Karriere. Sie haben zu einer Sensibilisierung für die Wichtigkeit der Schmerzbehandlung bei einer Vielzahl „vergessener Patienten“ geführt.

    Ein weiterer Durchbruch war die Entdeckung von MMPs in chronischen Wunden, zu der unsere Forschungsgruppe in Malmö erstmals publizierte. Daraus ergab sich u. a. die Entwicklung einer gezielten Behandlung zur Beseitigung bestimmter schädlicher MMPs in Wunden, was nun ein Abheilen vieler Ulzera ermöglicht, die zuvor als „austherapiert“ galten.

    Auch die Erkenntnisse zur Bildung von Biofilm haben mein Verständnis der Faktoren für eine verzögerte Wundheilung grundlegend verändert. 2018 erschien eine hervorragende wissenschaftliche Arbeit von Kalan und Griffith zur Rolle von Pilzen in Wunden. Für mich hat dies noch einmal bekräftigt, wie wichtig das Debridement des Biofilms auf Wunden ist.

    Ihnen wurden verschiedene Wissenschaftspreise verliehen. Auf welche Erfolge sind Sie besonders stolz?

    Besonders freue ich mich über die großen Fortschritte, die wir bei der Versorgung der Patienten mit schlecht heilenden Wunden gemacht haben. Seit meiner frühen Kindheit interessiere ich mich für die Wissenschaft. Das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe, war ein kleines Mikroskop, durch das ich verborgene Geschöpfe und botanische Wunderwerke der Natur beobachten konnte. Meiner Leidenschaft und Neugier folgend traf ich nach mehreren Studienabschlüssen die Entscheidung, mich akademisch weiterzubilden. Meine Dissertation in Dermatologie und Chirurgie 1993 an der Universität Lund enthielt fünf Arbeiten zu Patienten mit Ulcus cruris. Ich war sogar eine der ersten Krankenschwestern überhaupt in Schweden, die in Medizin promovierten. Meine Professur stellt nun die letzte Station meiner beruflichen Laufbahn dar, bei der ich die akademische mit der klinischen Tätigkeit verbinde: Lehren und Betreuen. Die Schwerpunkte meiner Forschungsgruppe waren – wenig überraschend – Wunden, Epidemiologie, Therapie, Mikrobiologie, Krankenhaushygiene.

    Neben der Mikrobiologie von Wunden liegt Ihr wissenschaftlicher Fokus auf der Prävalenz und Inzidenz von Dekubitalulzera. Warum ist diese Indikation von besonderem Interesse für Sie?

    Als Gründungsmitglied des Europäischen Beratungsgremiums für Dekubitus fiel mir anfangs auf, dass es zur Prävalenz von Dekubitalulzera keine Daten gibt. Daher habe ich Studien gemäß dem EPUAP-Prüfplan initiiert, die bis letztes Jahr landesweit durchgeführt wurden. Leider haben wir trotz der Sensibilisierung für diese Problematik in all diesen Jahren nur wenig Veränderung in der Prävalenz beobachtet. In einer der erfolgreichsten Längsschnittstudien, die ich zusammen mit der Leitung und der gesamten Belegschaft einer geriatrischen Klinik durchgeführt habe, konnte ein dramatischer Rückgang sowohl in der Prävalenz als auch der Inzidenz erreicht werden. Entscheidender Knackpunkt war eine Erhöhung des Wissensstands, die Anerkennung des Problems und die Umsetzung eines sehr strikten Versorgungskonzepts, das beispielsweise eine Risiko- und Hautbeurteilung innerhalb von zwei Stunden nach der Aufnahme im Krankenhaus, eine mit Arginin angereicherte Nährstofflösung, präzise Umlagerungsintervalle etc. beinhaltete. Auf die Ergebnisse dieses Projekts bin ich besonders stolz. Der Einsatz des Chefarztes und der gesamten Belegschaft war sehr beeindruckend, da wir die Ergebnisse jeden Monat erfasst haben. Alle waren sehr stolz auf diese Leistung. Generell bin ich allen Kollegen, Forschungsmitarbeitern, Angestellten und Patienten äußerst dankbar, die ihre Erfahrungen so großzügig mit mir geteilt haben.

    Was müssen medizinische Fachkräfte berücksichtigen bzw. was muss getan werden, um ein Abheilen derartiger Wunden zu erreichen?

    In den frühen 1980er Jahren wurde das Konzept der feuchten Wundheilung eingeführt, das auch heute noch nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt hat. In den vergangenen Jahren gab es aufgrund neuer Erkenntnisse zu Biofilmen, Pilzen und zur schädlichen Wirkung von abgestorbenem Gewebe in Wunden einen Durchbruch in der regulären Wundreinigung. Die Entwicklung eines nahezu schmerzfreien Monofilament-Debridementverfahrens ist eine der großartigen Errungenschaften des modernen Wundmanagements. Und so schließt sich der Kreis der Geschichte des Debridements: vom kurzen Abstecher zum „grünen Mann“ bis zur Umsetzung moderner Technologien.