das magazin / 23. März

    Zwischen Hype und Hoffnung: Medizin der Zukunft

    Wie Digitalisierung und Big Data das Gesundheitswesen verändern.

    „Künstliche Intelligenz schlägt Hautärzte bei der Diagnose von schwarzem Hautkrebs!“ So titelte das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) im Frühjahr 2019 in einer Pressemeldung. Heidelberger Wissenschaftler hatten einen Algorithmus programmiert, der verdächtige Hautveränderungen digital beurteilen kann. 157 Hautärzte von zwölf Universitätskliniken aus Deutschland traten gegen die künstliche Intelligenz an und beurteilten 100 Bilder danach, ob es sich um ein Muttermal oder einen schwarzen Hautkrebs handelt. Am Ende gab es einen klaren Sieger: der lernende Algorithmus.

    Die Digitalisierung der Medizintechnik, die Verbindung von Daten und Technologien in allen Bereichen der Gesundheitsbranche, die Perfektion von Diagnose und Therapien mittels schlauer Algorithmen – all dies ist schon Realität, nicht nur im Silicon Valley.

    Thomas Schulz erläutert in seinem Buch „Zukunftsmedizin. Wie das Silicon Valley Krankheiten besiegen und unser Leben verlängern will“: 

    „Aus dem Silicon Valley kommt die nächste Revolution, die unser Leben radikal verändern wird: die Neuerfindung der Medizin. Technikriesen wie Google und Microsoft, aber auch unzählige Start-ups entwickeln eine datenbasierte Computer-Medizin, die perfekt auf den einzelnen Patienten zugeschnitten ist. Bereits jetzt lassen sich durch neue Diagnosemöglichkeiten Veränderungen im Körper erkennen, bevor sie zu Krankheiten werden. Spektakuläre neue Therapien und hochwirksame Medikamente versprechen, uns schon bald ein gesünderes, deutlich längeres Leben zu bescheren“.

    Verlagsgruppe Random House und Spiegel Verlag, 2. Auflage 2018.

    Werden Patienten oder einzelne Risikogruppen Wearables tragen, um frühzeitig Krankheiten zu erkennen und behandeln zu lassen? Werden Ärzte zukünftig Künstliche Intelligenz als zusätzliche Ressource für Diagnose und Behandlungen nutzen? Helfen Big Data und Künstlicher Intelligenz bei der Suche nach neuen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden? Lassen sich Quantensprünge in der globalen Gesundheit erzielen? Man muss kein Prophet sein, um diese Fragen ausnahmslos mit einem Ja zu beantworten. Die Potenziale, die sich aus dem Zusammenwirken von technischer Digitalisierung, dem Sammeln, Speichern und Auswerten von Massendaten sowie lernenden Algorithmen ergeben, scheinen unbegrenzt.

    Das US-Marktforschungsunternehmen Frost & Sullivan prognostiziert, dass der Markt für KI-Systeme in der Gesundheitsversorgung bis 2022 auf sechs Milliarden Dollar ansteigen wird. Das entspricht einer Steigerung von 800 Prozent. Auch am Segment der Medizinprodukte wird dieser Trend nicht vorbeigehen. Das heißt umgekehrt: kein Unternehmen wird es sich mehr leisten können, die digitalen, datenbasierten Möglichkeiten für neue Produkte und Leistungen der Patientenversorgung außer Acht zu lassen.

    Das gilt nicht zuletzt für die europäischen Unternehmen, die den Wettlauf mit den US-amerikanischen Datengiganten, kurz „GAFA“ (Google, Amazon, Facebook, Apple), keineswegs aufgegeben haben. Kürzlich erst hat EU-Kommissar Thierry Breton den Kampf der Europäer gegen die scheinbar übermächtige Allianz ausgerufen. Die erste Welle der digitalen Geschäftsmodelle habe Europa verpasst – Konzerne aus den USA und China dominierten das Geschäft mit Nutzerdaten im Internet. Mit der Digitalisierung von Industrie, Verkehr und Gesundheitsversorgung komme

    „eine neue Welle, und wir müssen in der Lage sein, diese zu reiten“,

    sagte Breton im Januar 2020 dem Handelsblatt.

    Das erinnert an David und Goliath, und wie diese Geschichte ausgeht, weiß jedes Kind. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen ebenfalls weiter verändern. Zweifelsohne bleiben die Fragen des Datenschutzes auch für die digitale Medizin weiter ganz oben auf der Agenda, aber inzwischen dreht sich vieles um die Frage, wie der Datenschatz sinnvollerweise genutzt werden kann. Die Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin sind vielfältig und gleichzeitig ist die Akzeptanz von Big Data in diesem Feld durchaus hoch. Hier gilt trotz der hohen Sensibilität von Gesundheitsdaten: je konkreter sich der Nutzen zeigt, desto höher wird die Zustimmung selbst bei den Menschen, die der digitalen Revolution insgesamt eher kritisch gegenüberstehen (Quelle: Die Big Data Debatte 2019, S. 157). Der Aufbau von öffentlichen Datenbanken, die für die medizinische Forschung genutzt werden können, oder das Daten-Sharing innerhalb von Branchen – diese aktuellen Entwicklungen werden den Umgang mit Big Data dramatisch verändern.

    Oft vergessen wird dabei, dass es nicht zuletzt der Kunde bzw. Patient selbst ist, der diese Entwicklung treibt. Der Trend zur Selbstoptimierung mit Smart Watches, intelligenten Laufbändern oder Wearables, mit denen sich Körperdaten wie Pulsschlag, Körpertemperatur oder Sauerstoffsättigung messen lassen, ist ungebrochen. Angereichert mit Daten wie Blutgruppe, Allergien oder Vorerkrankungen entsteht ein Datenpool, aus dem Patienten wie Ärzte oder Therapeuten ihre Schlüsse ziehen können. Damit eignen sich genau diese Technologien aber nicht nur für coole Selbstoptimierer, sondern faszinierenderweise auch, um ein selbstbestimmtes Leben im Alter oder bei körperlichen Beeinträchtigungen führen zu können.

    Digitale Prävention, Diagnostik, Überwachung von Krankheitsverläufen und Pflegeunterstützung – diese Perspektiven werden das Segment der Medizinprodukte ebenfalls erheblich verändern und vor allem für innovative Wachstumsimpulse sorgen. Das bedeutet jedoch, dass auch das Geschäftsfeld der Medizinprodukte immer anspruchsvoller wird. Nicht zuletzt durch die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der Massendaten sich vermehren und datengetriebene Anwendungen einen Innovationszyklus nach dem anderen durchlaufen, wird es gleichzeitig immer schwieriger, sichere Prognosen aufzustellen. Daran müssen sich alle Marktteilnehmer wohl oder übel gewöhnen. Denn das Zeitalter der digitalen Medizin ist keine Vision mehr, es hat bereits begonnen.