das magazin / 15 June

    „Wir benötigen mehr digitale Pioniere"

    Interview mit Prof. Dr. Klemens Skibicki, Wirtschaftshistoriker und Professor für Economics, Marketing und Marktforschung zur Standortbestimmung Digitalisierung im Gesundheitswesen.

    Vita:

    Prof. Dr. Klemens Skibicki (Jahrgang 1972) promovierte nach seinen Diplomabschlüssen in BWL und VWL im Jahr 2001 zum Dr. rer. pol. im Fach Wirtschaftsgeschichte an der Universität Köln. Seit 2004 ist er Professor für Economics, Marketing und Marktforschung an der Cologne Business School.

    Neben der wissenschaftlichen Forschung zum Online-Marketing kommen später der Betrieb eigener Internetplattformen und Engagements als Business Angel oder Investor in digitalen Start-ups sowie ab 2012 die von ihm mitgegründete Unternehmensberatung Convidera hinzu. Im Mai 2016 verkaufte Skibicki seine Convidera-Anteile, um als Keynote-Speaker und Berater ausgewählter Top-Führungskräfte noch flexibler als Schnittstelle zu einem breit aufgestellten Netzwerk agieren und unterstützen zu können.

    Von 2013 bis 2018 war Klemens Skibicki Kernmitglied des Beirates „junge digitale Wirtschaft“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Im Juni 2014 folgte mit der Berufung in den Digitalbotschafter-Kreis des Wirtschaftsministers Nordrhein-Westfalen eine weitere Tätigkeit in der ehrenamtlichen Politikberatung. Über die Ergebnisse seiner Forschung und Unternehmensberatung hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. 

    Der digitale Wandel, Digitalisierung oder digitale Transformation. Stehen diese Themen auf der Agenda von CEOs? Wo stehen wir, Ihrer Einschätzung nach, in Sachen Digitalisierung in der D-A-CH Region? Haben uns andere Märkte in Europa, Asien und den USA etwas voraus?

    Die D-A-CH Region liegt meiner Einschätzung nach bei der Digitalisierung nicht sehr weit vorne. Hier sind eindeutig andere Märkte im Lead und auch Europa spielt bei der Digitalisierung keine sehr große Rolle. Die USA und China sind die Treiber. CEOs haben dort beispielsweise eine ganz andere Nähe zu Echtzeit-Kommunikation als Führungskräfte in Europa. Nur ein geringer Prozentsatz der CEOs von DAX Konzernen betreibt einen Twitter Account. 

    Worin liegen die Ursachen für diese großen Unterschiede?

    Gerade in Deutschland herrscht eine eher negative Haltung zum Thema Daten vor, d.h. hier überwiegen eher Risiken, als dass die Chancen in einem modernen und zukunftsweisenden Umgang mit Daten gesehen werden. Meiner Meinung nach hindert uns unsere eher negative Einstellung Daten gegenüber, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Mein Credo: Neben allen Risiken die Chancen nicht außer Acht lassen!

    Nach meiner Definition bezeichnet der digitale Wandel „die Anpassung der bestehenden Strukturen, Denkweisen und Erfolgsmessungsgrößen an die Möglichkeiten des datenvernetzen Zeitalters. 

    Welche Branchen sind die Pacemaker bei der Digitalisierung und welche Best Practice Beispiele gibt es?

    An erster Stelle stehen die Medien und die Konsumgüterindustrie. Wobei ich die Medien nicht als Pacemaker bezeichnen würde. Sie mussten eher schmerzlich erfahren, dass ihr bisheriges Erfolgskonzept nicht mehr funktioniert und sie dringend neue Erlösmodelle schaffen mussten, um in der VUCA Welt (Anmerkung: VUCA beschreibt die schwierigen Rahmenbedingungen in einer immer volatileren, unsichereren, komplexeren und mehrdeutigeren Welt) noch eine Rolle zu spielen.

    In den USA gibt es mit dem Silicon Valley, mit Amazon, Facebook und Google gute Beispiele für erfolgreiche Unternehmen in der digitalen Welt. In Europa sieht es da überschaubarer aus. Gerade die Unternehmen und die Politik müssen sich in Europa mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen. Ich empfehle, ein ganzheitliches Management der Digitalen Transformation von Unternehmen aufzusetzen.

    Die Leitfrage dabei: „Wie müssen sich Unternehmen in allen Bereichen an die neuen Rahmenbedingungen einer Netzwerkökonomie im Social Web, Mobile Web und Internet der Dinge (Industrie 4.0) anpassen?“

    Fehlt Europa ein Silicon Valley?

    Es fehlt eine europäische Variante des Silicon Valleys. Es geht um die Frage, wie entstehen oder verändern sich erfolgreiche Unternehmen rund um ein verändertes Mindset.

    In Deutschland beschäftigte man sich damit, wie man Unternehmen wie Google & Co in die Schranken weisen könne. Die richtige Frage ist meiner Einschätzung nach doch eher, warum diese Unternehmen nicht in Deutschland entstehen. Weltweit gibt es rund 326 Start-ups, die vor dem Börsengang mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet werden. Lediglich neun Start-ups sind in Deutschland ansässig. 

    Wir müssen die Digitalisierung dorthin bringen, wo das Herz der Wirtschaft schlägt. 

    Wo sehen Sie die Gesundheitsbranche ganz allgemein beim Thema Digitalisierung, wird sie auch hier durch die starke Regulierung geprägt?

    Regulierungen im Gesundheitswesen haben natürlich ihre Berechtigung. Ich habe allerdings den Eindruck, dass man in der Branche übervorsichtig ist. Wie würde die Gesundheitsbranche aussehen, wenn man sie heute von Grund auf neu aufstellen würde? Ich habe auf der Digitalkonferenz VISION.A dazu referiert. Ein Beispiel: Warum sollten Kunden für eine Beratung in die Apotheke kommen? Die Apotheker könnten ebenso gut per WhatsApp oder Facebook beraten. Während beispielsweise Amazon seine Datenkompetenz nutzt, um das Online-Geschäftsmodell auch auf stationäre Geschäfte auszuweiten, wäre bei Apotheken der Weg, neben der klassischen Apotheke auch Online-Beratung anzubieten. 

    Gibt es bestimmte Bereiche im Gesundheitswesen, die hier schon weiter sind, oder gilt der allgemeine Status quo für alle Organisationen, von der Pharmabranche bis zur Krankenkasse?

    Hier ist einiges in Bewegung, aber meiner Einschätzung nach sprechen wir von einzelnen Pilotprojekten, die im Rahmen der strengen Regulierungen entwickelt und umgesetzt werden. Die Branche wird mittelfristig an den Themen Künstliche Intelligenz, Chancen der Vernetzung von Daten, OP der Zukunft, Absicherung von Diagnosen oder der digitalen Patientenakte nicht vorbeikommen. Auch hier gilt: Wir brauchen mehr digitale Pioniere, und zwar in allen internationalen Märkten.

    Was ist, Ihrer Einschätzung nach, die größte Herausforderung unserer Zeit im Hinblick auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen?

    Wer bei der Digitalisierung mithalten will, darf seine alten Strukturen nicht einfach in das neue System übertragen. Es wird darum gehen, im Rahmen der bestehenden Regulierungen neue Sichtweisen und darüber auch neue Lösungsansätze zu entwickeln.

    Welche Megatrends sehen Sie hier? In der Medizin und bei den Medizinprodukten?

    Aktuell geht es noch darum, die Vorteile der Digitalisierung den unterschiedlichen Zielgruppen deutlich zu machen. Stellen Sie sich vor, es gäbe eine App, die mir kommuniziert, dass ich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in 10 Minuten einen Schlaganfall erleiden werde. Welche Vorteile würde das für Patienten und Ärzte mit sich bringen? Ich kann Ihnen hier leider eine kleine bissige Bemerkung nicht ersparen. In Deutschland wird eher der Ethikrat angerufen, als über die Vorteile zu sprechen - sehr bedauerlich. Die Unternehmen, die über die Vorteile Ihrer Produkte und Lösungen umfassend aufklären, haben ein sehr hohes Potential, die digitale Transformation im Gesundheitswesen mitzugestalten, auch im Rahmen eines regulierten Marktes.

    Wie offen sind Patientinnen und Patienten im Umgang mit der Digitalisierung?

    Auch bei diesem Thema geht es vor allem um Aufklärung über die Chancen, die die Digitalisierung haben kann, und zwar für die persönliche Gesundheit des Patienten. Wir sollten den Menschen mehr zuhören, was sie sich wünschen. 

    Was finden Sie persönlich am Thema Digitalisierung so spannend und warum engagieren sie sich dafür?

    Als Wirtschaftshistoriker stelle ich fest, dass sich geschichtliche Entwicklungszyklen wiederholen. Mit dem Beginn der Industrialisierung nahm das Informationszeitalter seinen Anfang. Der Mensch hat sein Leben nach den Maschinen ausgerichtet. Heute stellt die Digitalisierung altbewährte Prinzipien infrage und mit alten Regeln kann man schwer neue Phänomene erfassen. Die digitale Transformation ist in meinen Augen mehr Kopf- als Techniksache. Ich bin in beiden Welten zuhause.